Adidas- ein Opfer des ästhetischen Kapitalismus
Foto von Flavio Ensiki flickr.com (CC BY 2.0)
Vorab: Auch wenn wir zur Zeit die angeblich schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression vor fast hundert Jahren durchmachen, eines ist sicher: die Wirtschaft wird sich irgendwann wieder erholen. Sie wird aber, auch das ist sicher, nicht mehr dieselbe sein wie bisher. Einige Branchen stehen jetzt schon jetzt als Gewinner fest, andere werden an Bedeutung verlieren oder ganz verschwinden. Zum einen werden das die Kräfte des Marktes besorgen, zum anderen wird aber auch der Staat ganz anders als bisher in das Marktgeschehen eingreifen, nachdem er mit einer Kraftanstrengung ohnegleichen die Wirtschaft, die sich angeblich so wunderbar selbst reguliert, vor dem Zusammenbruch retten musste. Es ist dringend zu wünschen, dass er es dabei nicht mit Reparaturen belässt, sondern sich mit den strukturellen Problemen unseres Wirtschaftssystems auseinandersetzt.
Am Fall der Firma Adidas lässt sich dieses strukturelle Defizit gut beleuchten. Auf den ersten Blick ist es geradezu unfassbar: ein Unternehmen, das noch im letzten Jahr Milliarden Umsatz und Milliarden Gewinn gemacht hat, muss ein paar Monate später, als ein Virus die Wirtschaft weltweit lahm legt, für Milliarden staatliche Kredithilfe in Anspruch nehmen. Um das zu verstehen, muss man ein paar Schritte zurückgehen. Das auf den Grundsätzen des Kapitalismus beruhende Wirtschaftssystem hat in den letzten zweihundert Jahren trotz zwischenzeitlicher heftiger Rückschläge, z.B. durch die Weltkriege, die große Depression und andere Ereignisse, die Menschen der westlichen Welt und seit einigen Jahrzehnten auch überall auf dem Globus aus tiefer Armut herausgeholt und ihnen einen gewissen Wohlstand gebracht. Während in der Frühzeit des Kapitalismus der Motor dieser Wohlstandsentwicklung die Industrialisierung, die Modernisierung der Landwirtschaft, die Schaffung von Infrastruktur, die Erleichterung des Warenaustauschs waren, ist es seit vielen Jahren in den entwickelten, man kann auch sagen: gesättigten Volkswirtschaften der Konsum. In den USA, die in dieser Hinsicht am weitesten entwickelt sind, entfällt 80 Prozent des Bruttosozialprodukts auf den Konsum (der dort, nur nebenbei gesagt, in einer geradezu extremen Form über Kredit finanziert wird).
Fällt der Konsum flach, wie jetzt nicht nur in Folge von Geschäftsschließungen, sondern auch wegen fehlender Geldmittel, so bekommt dieses fragile System schwere Risse. Umgekehrt gilt: damit das System am Laufen gehalten bleibt, muss mit allen Mitteln dafür gesorgt werden, dass konsumiert wird. In dieser Situation befinden sich die entwickelten kapitalistischen Wirtschaftssysteme seit langem – genau genommen, seit dem die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen, Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf befriedigt sind. Da die Wirtschaft aber weiter wachsen soll, muss weiter konsumiert werden, müssen „Begehrnisse“, wie der Philosoph Gernot Böhme sie genannt hat, geschaffen werden, Dinge, die man zwar nicht zum Leben braucht, die man aber doch gern hätte.
Hier muss man sozusagen zwei Stufen von Begehrnissen unterscheiden: wenn man gerne Sport treiben möchte, z.B. Joggen, braucht man geeignete Laufschuhe. Man braucht aber nicht unbedingt Schuhe von Adidas. Man kauft Adidas-Schuhe oder Nike-Schuhe oder das Smartphone von Apple oder die Sonnenbrille von Prada oder die Handtasche von Louis Vuitton nicht wegen ihres Warenwertes, sondern weil man sich mit ihrem Besitz eine gewisse Erhöhung der eigenen Person verspricht. Dieses Gefühl kommt dem Konsumenten aber nicht von selbst, sondern es wird ihm durch eine entsprechende Werbung des Produzenten suggeriert. Gernot Böhme nennt es die Ästhetisierung der Warenwelt. Nicht der materielle Wert der Ware ist der entscheidende Kaufanreiz, sondern der Schein, der auf ihr liegt und der mit dem Erwerb sozusagen Teil des eigenen Lebens wird. Indem so die Ware als solche in den Hintergrund tritt, verlagert sich die Kaufentscheidung ins Innere des Konsumenten, wo sich durch die Werbung der Schein, der Mehrwert der Ware gebildet hat. Der ästhetische Kapitalismus, bei dem es nicht mehr um Gebrauch oder Verbrauch von Waren geht, sondern um die Bereicherung und Überhöhung der eigenen Person durch den Erwerb der Ware, ist sozusagen die letzte Entwicklungsstufe des Kapitalismus und kann, wenn sie nicht gestört wird, ins Uferlose gesteigert werden. Während Bedürfnisse endlich sind, sind Begehrnisse nicht nur unendlich, sondern verlangen immer neue Befriedigungen.
Das war die Situation vor Corona. Und das Virus hat zweierlei bewirkt: zum einen hat es die Brüchigkeit dieses auf immer weitere Steigerung der Begehrnisse aufgebauten Wirtschaftssystems aufgezeigt, es hat aber möglicherweise eine noch viel tiefer gehende Wirkung, indem den Menschen in dieser mit Isolation und Reflexion verbundenen Krise klar geworden ist, wie irreal und bedeutungslos der Schein ist, mit dem die Werbung die Waren überhöht hat, wie wenig sie eigentlich brauchen zu einem wirklich guten Leben, wie sehr sie mit ihrem Konsum die eigenen Lebensgrundlagen gefährden und beschädigen, wie irrational die Politik mit ihrer Fixierung auf ein Wachstum der Wirtschaft ist.