Todenhöfer
Der Ausdruck „dark horse“ steht im Amerikanischen für einen Außenseiter, dem entgegen dem allgemeinen Urteil („conventional wisdom“) Chancen auf einen Sieg in einem Rennen oder Wettbewerb eingeräumt werden. Ist Jürgen Todenhöfer ein solches „dark horse“, der zwar nicht die Bundestagswahl gewinnen wird, aber mit seiner Gerechtigkeitspartei in den Bundestag einzieht, oder wird seine Bewegung zur Reform der Politik wie so viele vor ihm nach einem gewissen Aufmerksamkeitsschub unter „Sonstige“ landen?
Es gibt fünf entscheidende Gründe, die darauf hindeuten, dass bei dieser Bundestagswahl eine Bewegung wie die Gerechtigkeitspartei das fest gefügte Parteiensystem aufmischen könnte und eine neue Partei einen neuen Anspruch an die Politik richtet.
Der wichtigste Grund ist sogar ganz unabhängig von der Bewegung Todenhöfers: das deutsche Parteiensystem ist im Zustand der Auflösung. Mit der CDU im freien Fall verlässt die letzte Volkspartei die politische Bühne. Die Zeit der Volksparteien ist wie in den Nachbarstaaten Frankreich, Italien, Niederlande auch in Deutschland vorbei. Es gibt keine Partei mehr, die ein breites Spektrum der Bevölkerung mehr emotional als interessegeleitet an sich binden kann, alle Parteien sprechen nur noch ihre jeweilige Klientel an.
Dieser Prozess geht einher und wird verstärkt durch eine wachsende Distanzierung der Wähler von den Parteien und den Politikern. Zwar macht die Mehrheit von ihnen weiterhin am Wahltag bei den etablierten Parteien ihr Kreuz, aber mit wenig Vertrauen in die Gemeinwohlorientierung der Politiker und ohne große Hoffnung, dass die Wahl zu grundlegenden Verbesserungen führt. Die Menschen spüren, dass es den Parteien nicht um sie geht, sondern in erster Linie um sich selbst, ihren Machtgewinn, ihren Machterhalt. Hier kann eine neue Bewegung wie die von Jürgen Todenhöfer punkten, wenn er glaubhaft machen kann, dass sie anders ist.
Der dritte Grund für einen möglichen Erfolg seiner Bewegung liegt darin, dass bei dieser Bundestagswahl eine neue politische Atmosphäre herrschen wird. Auch wenn vermutlich im Herbst die äußeren Auswirkungen der Pandemie überwunden sein werden, wird die durch sie ausgelöste Verunsicherung der Bevölkerung und ihr Zweifel an der Kompetenz der verantwortlichen Politiker weiter wirken. Die Menschen werden sich nicht mehr beeindrucken lassen von den hohlen Phrasen und luftigen Versprechungen, mit denen Wahlkämpfe bestritten werden, im Gegenteil, sie werden auf diese nicht nur misstrauisch, sondern sogar feindselig reagieren. Dies ist die Chance für eine politische Bewegung, die Klartext redet und sich nicht scheut, die Probleme zu benennen, vor denen die Gesellschaft steht und hierzu auch möglicherweise schmerzhafte Lösungen anbietet. Neben der unbestimmten Angst vor Veränderung ist auch der Wunsch nach etwas grundlegend Neuem in der Politik spürbar. Er könnte, richtig angesprochen, sich explosiv verbreiten.
Damit verbunden ist eine Sehnsucht nach Authentizität. Es ist nicht einmal so sehr ein Mangel an Persönlichkeit, der es den meisten Politikern schwer macht, sie selbst zu sein. Sie sind eingebunden in so viele teils widerstreitende Verpflichtungen, der Partei gegenüber, dem Amt, dem Klientel, der eigenen Karriere, dass sie in der Öffentlichkeit wie hinter einer Maske erscheinen. Es ist einer der Gründe für den Erfolg der beiden Führungspersönlichkeiten der Grünen, dass sie als neue unverbrauchte Gesichter diesen Eindruck von Authentizität vermitteln, wobei auch bei ihnen, seitdem sie unter permanenter Beobachtung der Öffentlichkeit stehen, leichte Eintrübungen zu beobachten sind. Jürgen Todenhöfer hat sich in den letzten Jahren mit seinen Engagements für Menschen in Krisengebieten den Ruf eines Menschen erworben, der mit seiner ganzen Person hinter dem steht und für das einsteht, was er von sich gibt.
Schließlich die geradezu bizarre Tatsache, dass er als Achtzigjähriger in den Ring steigt, um die gesamte etablierte Politik herauszufordern, einschließlich des Anspruchs auf die Kanzlerschaft, der zwar unrealistisch ist, aber nur konsequent im Rahmen seiner Wahlkampfstrategie. Der Schuss könnte natürlich nach hinten losgehen, aber bisher sind Versuche, ihn und seine Kampagne lächerlich zu machen, nicht zu beobachten. Man beschränkt sich auf Seiten der Gegner auf Nichtbeachtung und Totschweigen. Es könnte aber etwas ganz Anderes passieren, was ich den Bernie Sanders Effekt nennen würde: ein alter Mann wird zum Symbol der Hoffnung für die Jugendlichen, die genug haben von den leeren Phrasen der gestandenen Politiker und jemanden hören wollen, der ihnen die Wahrheit über ihre Zukunft sagt und dabei Optimismus verbreitet, dass die Welt und auch die Demokratie für sie noch zu retten ist. Der Zuspruch, den Todenhöfer jetzt schon bei der jungen Generation findet, ist beachtlich.
Todenhöfer macht mit seinem Team vor allem über die Sozialen Medien, aber auch mit konventionellen Mitteln einen hochprofessionellen Wahlkampf, auch wenn das bisher in der Öffentlichkeit aufgrund der Nichtbeachtung durch die Presse noch nicht so wahrgenommen wird. Die Chance ist gegeben, dass in dieser Kombination von ehrlicher Botschaft an die Wähler, moderner Wahlkampfstrategie und überzeugender Persönlichkeit mit dem Team Todenhöfer – der Gerechtigkeitspartei - eine neue Bewegung, eine wirkliche Alternative für Deutschland, den Einzug in den Bundestag schafft. Wird auch diesmal dieses Ziel verfehlt, weil nach der Corona- Krise die Sehnsucht nach der sogenannten Normalität überwältigend ist, so dürfte auch eine Chance für eine Erneuerung der Demokratie in Deutschland für Jahre verpasst sein.