Systemrelevant

 
Photo by Sebastian Holgado on Unsplash

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Als im Münsterland wegen eines massiven Auftretens von Covid-19-Erkrankungen bei Arbeitern eines Großschlachtbetriebs dieser von den Behörden vorübergehend geschlossen wurde, hieß es von Seiten des Verbands der Fleischwirtschaft, die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch sei „systemrelevant“. Man hätte sich nach dieser Verlautbarung mindestens ein wenig von der Empörung gewünscht, die der berüchtigten Äußerung von Boris Palmer entgegenbrandete. Aber nein, kaum eine Reaktion. Damit es dabei nicht bleibt, greife ich das Thema Systemrelevanz auf.

Zunächst ist es keineswegs ausgemacht dass die deutsche Bevölkerung die Menge an Fleisch benötigt, die derzeit von der Industrie produziert und auf den Markt geworfen wird. Doch dazu später. Aber der Sprecher der Fleischwirtschaft hat insofern recht, wenn er darauf hinweist, dass die Unterbrechung der Fleischlieferung aus den Großschlachtereien unser Wirtschaftssystem aus den gewohnten Geleisen bringt. Die Frage nach der Relevanz ist aber falsch gestellt, sie muss sich vielmehr an das System selbst richten. Ist ein System relevant für eine Gesellschaft, bei dem allein der Preis diktiert, unter welchen Bedingungen Fleisch produziert, verwertet und vermarktet wird? Das kapitalistische System der Gewinnmaximierung, das unter dem unschuldigen Begriff der Marktwirtschaft die gesamte Lieferkette in seinem eisernen Griff hält, hat eine durch und durch industrialisierte Landwirtschaft hervorgebracht, bei der das Wohl der Tiere in grauenhafter Weise missachtet und die Rechte der Menschen, der produzierenden wie der konsumierenden, bewusst verletzt und umgangen werden.

Die unsäglichen Zustände, in dem die Tiere bis zur Schlachtung oder für die Produktion von Eiern und Milch gehalten werden, sind allzu bekannt und brauchen hier nicht näher dargestellt werden. Sie sind eine Schande für eine Gesellschaft, die sich zivilisiert und human nennt. Die Bedingungen, unter denen die minimal entlohnten meist osteuropäischen Arbeiter im Akkord die Tiere zerlegen, und die Wohnverhältnisse, in denen sie eng zusammen hausen, erinnern an die Frühzeiten der Industrialisierung. Zu der Ausbeutung von Tieren und Menschen kommt hinzu eine rücksichtslose Umweltverschmutzung (z.B. durch ein Übermaß an Gülle) und Gesundheitsgefährdung der Konsumenten durch die massenhafte Verfütterung von Antibiotika mit der Folge der Resistenzbildung bei auch den Menschen gefährlichen Bakterien.

Man könnte noch weitere unheilvolle Fakten aufführen. Es reicht für ein vernichtendes Urteil über dieses „System“, das ja nur im Rahmen des übergeordneten Systems der kapitalistischen Marktwirtschaft funktioniert.

Es ist gut, dass die Corona-Pandemie nicht nur bei der Fleischindustrie die tief liegenden Widersprüche dieses Systems, das sich einzig und allein über den Preis reguliert, offen legt. In diesem Fall sind es die beengten Wohnverhältnisse (billig für den Unternehmer) und die fließbandähnlichen Arbeitsbedingungen (effizient, dadurch kostensparend), die den Ausbruch der Krankheit verursacht haben, unter dessen Folgen die ganze Gegend in Form von Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, zu leiden hat. Dieses sich angeblich selbst regulierende System bedarf der ordnenden Hand des Staates, der Vorgaben macht und erzwingt, die mit unserem Wertesystem – das gibt es eben auch noch außer und sogar über dem Wirtschafssystem – übereinstimmen. Aber auch auf Seiten der Verbraucher muss es ein Umdenken geben, das, Gott sei Dank, bei einer Minderheit bereits im Gange ist..

Es muss aber bei der Bevölkerung in der Breite ein Bewusstsein dafür entstehen, dass Fleisch seinen Wert hat und nicht als Ramschware zu konsumieren ist. Um es artgerecht zu produzieren und seinem Wert entsprechend zu vermarkten, muss es einen fairen Preis haben. Es sollte durchaus wieder wie vor den Werbeschlachten der Discounter eine Art Luxusgut werden, dass man sich nicht täglich gönnen kann, das man aber auch nicht jeden Tag braucht. Es liegt an uns als mündige Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft und nicht als Subjekte eines Wirtschaftssystems zu entscheiden, was relevant für ein gutes Leben ist.

 
Werner Peters