Corona, CO2 und Tempolimit
Foto von European People's Party flickr.com (CC BY 2.0)
„Wir schaffen das“ – das war – natürlich unausgesprochen – die Botschaft von Kanzlerin Merkel in ihrer Fernsehansprache, mit der sie den Bürgern Zuversicht einflößte, dass die Regierung, gestützt auf die Erkenntnisse der Wissenschaft, die richtigen Maßnahmen treffen werde, um die Herausforderungen an das deutsche Gesundheitswesen zu bewältigen. Sie hat diese ominösen Worte nicht wiederholt, die zu Marksteinen ihrer Kanzlerschaft geworden sind und ihr zu Recht oder Unrecht viel Kritik eingebracht haben, zu Unrecht, weil die vorausgegangene Öffnung der Grenzen für eine Million Flüchtlinge als eine großartige humanitäre Tat in der ganzen Welt und bedauerlicherweise in Deutschland nur teilweise Lob und Bewunderung gefunden hat, zu Recht, weil dieser Ankündigung nicht der entsprechende Einsatz für die Bewältigung der Mammutaufgabe der Integration der Flüchtlinge folgte, vor allem aber weil sie es versäumte, die deutsche Bevölkerung dabei mitzunehmen, die anfänglich zu großen Teilen durchaus bereit war, sich mit einzubringen. Man war zu ängstlich, den Menschen Einschränkungen und Opfer abzuverlangen.
Wir sehen heute, wie die Menschen klaglos massive Einschränkungen ihrer Freiheit, ihres Konsums, ihrer Mobilität hinnehmen nicht nur ihrer eigenen Gesundheit wegen, sondern in starkem Maße auch aus Rücksicht auf andere, die ein besonderes Gesundheitsrisiko tragen. Wir stehen erst am Anfang dieser Phase des „Entbehrens“ und der Rücksichtnahme; um diese durchzustehen und auch danach ein neues Verhalten uns selbst und der Gemeinschaft gegenüber, in der wir leben, beizubehalten und auszubauen, werden uns hoffentlich die kommenden Erfahrungen klar machen, was wir wirklich benötigen, was alles überflüssig ist und was ein gutes Leben ausmacht.
Wir müssen die Chance nutzen, mit dem dieser tiefe Fall aus dem Luxus-Kokon ins sehr schlichte, aber keineswegs existenzbedrohende Dasein unser Bewusstsein erweitert, um zu erkennen, dass unser derzeitiges Wirtschaftssystem mit seinem Drang nach immer mehr Wachstum, mit seiner Fixierung auf das Bruttosozialprodukt, mit seiner Dominanz des Finanzkapitalismus nicht nur durch die von ihm verursachte Klimakatastrophe das Überleben auf diesem Planeten gefährdet, sondern bereits jetzt unser Leben ruiniert, indem es uns zu Sklaven eines nebulösen Fortschrittsglaubens macht.
Wer es noch nicht begriffen hat, den müssten Äußerungen wie zur Zeit gelegentlich aus den USA, dass wir es uns nicht leisten können, wegen einiger tausend Toten unser ganzes Wirtschaftssystem aufs Spiel zu setzen, endgültig die Augen öffnen dafür, wie irrsinnig dieses Wirtschaftssystem ist. Wir haben jetzt die Zeit innezuhalten und nachzudenken, wie die Alternative aussieht zu einer auf unendliches Wachstum und grenzenlosem Konsum aufgebauten Ökonomie. Wir haben nicht nur die Zeit dazu durch den erzwungenen Stillstand, sondern auch die emotionale Bereitschaft, wie sich in dem veränderten Verhalten der Menschen zu Verzicht, Einschränkung und Gemeinschaftsgeist zeigt.
Es gilt jetzt, diesen Umschwung zu einem neuen solidarischen Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft zu nutzen, um die große, wahrscheinlich noch viel größere Aufgabe zur Rettung des Planeten vor der Klimakatastrophe mit einer ganz anderen Energie anzugehen als mit den zaghaften Ansätzen, zu denen sich die Politik bisher mühsam durchgerungen hat. Es zeigt sich, dass die Menschen zu Änderungen ihres Verhaltens bereit sind, wenn es ums Überleben, und nicht nur das eigene, sondern auch das der Nachbarn geht. Allerdings muss man sich verabschieden von dem Irrglauben, dass die Kräfte des Marktes es schon richten werden und dass es ohne einschneidende Eingriffe der Politik in das Wirtschaftssystem gehen wird, dessen Fragilität und Hilflosigkeit angesichts unvorhergesehener Änderungen der Verhältnisse diese Krise für jeden sichtbar gemacht hat. Die Politik muss endlich aufhören, sich zum verlängerten Arm der kapitalistischen Wirtschaft zu machen und dieser wieder Regeln aufzwingen, die eine humane Gesellschaft entstehen lassen.
Es ist vielleicht nur eine Geste, aber ein kleiner Schritt, der sichtbar macht, dass die Regierung es diesmal ernst meint mit ihrem Kampf gegen die Klimakatastrophe, wenn sie endlich auch in Deutschland ein Tempolimit auf den Straßen einführt, wie das in allen zivilisierten Ländern der Erde üblich ist. Wir haben gelesen, dass durch den Einbruch der Wirtschaft der CO2-Ausstoß sich drastisch vermindert hat, einzig bei Gebäuden und dem Verkehr ist er gestiegen. Neben vielen Argumenten, die für ein Tempolimit 130 auf deutschen Autobahnen sprechen (und die von Gegnern und Lobbyisten heftigst disputiert werden) ist unwidersprochen, dass ein Tempolimit zu einer CO2 Reduktion von einigen Tonnen pro Jahr führen würde. „Was machen die schon aus gegen die Menge, die ab jetzt in China wieder in die Atmosphäre geblasen wird, wo man ja die Industrieproduktion rasant wieder hochfahren will?“ Wer so argumentiert, hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Im Übrigen geht es nicht um die Menge, es geht darum, ein Zeichen zu setzen. Das dürfte der Politik sogar leicht fallen, da bereits vor der Krise 65% der Bevölkerung sich für ein solches Tempolimit ausgesprochen haben. Vielleicht ist aber auch der Anteil derer, die nicht auf ihr „Fahrvergnügen“ verzichten können, angesichts der Krise, die uns überall Einschränkungen und Verzicht abverlangt, schon sehr viel kleiner geworden.